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Mobirise

2002

Mobirise

Leiden, Niederlande
Kunstprojekt "Marinus",
Projektstart, Aktion

Mobirise

Leipziger Kunstverein, "Marinus"

MARINUS

Marinus van der Lubbe wurde 1909 in Leiden in den Niederlanden geboren
und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er absolvierte eine Maurerlehre und sympathisierte zeitig mit den Kommunisten. Bei zwei Arbeitsunfällen bekam er ungelöschten Kalk in die Augen, was zu einer starken Beeinträchtigung seines Sehvermögens und zur dauerhaften Arbeitsunfähgkeit führte. Mit Gelegenheitsarbeiten besserte er seine schmale Invalidenrente auf. Nebenher betätigte sich Marinuns van der Lubbe politisch, schrieb Flugblätter und Streikaufrufe, organisierte Demonstrationen und trat auch als Redner auf. Er war Mitglied in der Kommunistischen Partei Hollands CPH, geriet aber bald in Konflikt mit seinen Genossen, da ihm die Partei nicht radikal genug erschien. Schließlich trat er aus der Partei aus und und betätigte sich im niederländischen „Spartacus“, einer rätekommunistischen Organisation mit anarchistischem Einschlag.

Mehrfach brach er zu Reisen nach Sowjet-Russland und China auf, musste aber seine Wanderungen immer wieder vorzeitig abbrechen. In Holland führten seine Aktivitäten zu vereinzelten Gefängnisaufenthalten. Seine Augenkrankheit verschlimmerte sich ebenfalls. Ohne berufliche und politische Perspektive verließ er 1933 die Niederlande erneut und reiste nach Berlin, wo Hitler gerade zum Reichskanzler ernannt worden war.

Am 25. Februar 1933 verübte er drei Brandanschläge an öffentlichen Gebäuden, welche jedoch alle misslangen. Zwei Tage später drang er in den Reichstag ein, legte Feuer und wurde noch im brennenden Gebäude von der Berliner Polizei verhaftet. Seine Tat leugnete er nicht. Schnell kamen jedoch Zweifel an seiner Alleintäterschaft auf. Während Marinus van der Lubbe den Kommunisten als Werkzeug der Nazis galt, nutzten diese den Reichstagsbrand zur Durchsetzung eines Ermächtigungsgesetzes, durch welches die gesamte Macht de facto auf Hitler und die NSdAP überging. Dieses Gesetz war die eigentliche Grundlage für die Verbote demokratischer Parteien, Organisationen und Zeitungen, was die totale Gleichschaltung des Dritten Reichs und Terror gegenüber allen Andersdenkenden zur Folge hatte.
Der Brandstifter selbst wurde am 10. Januar 1934 in Leipzig hingerichtet. Um dies zu ermöglichen wurde eigens ein neues Gesetz erlassen.

Mit dem „Braunbuch über den Reichstagsbrand“ versuchten die Kommunisten, Marinus van der Lubbe eine Komplizenschaft mit den Nationalsozialisten nachzuweisen. Die Beweisfindung beruhte, wie heute bekannt ist, weniger auf Fakten als auf Behauptungen, auf Verfälschung von Aussagen sowie Verleumdungen. Auch wenn van der Lubbe eine Mittäterschaft der Nazis von Anfang an bestritt, war diese Lesart über Jahrzehnte gültige Lehrmeinung. Was nicht verwundert, waren doch die Nazis die tatsächlichen Nutznießer der Reichstagsbrandstiftung. Nach dem Krieg gab es jedoch, ausgehend von Veröffentlichungen im „Spiegel“, eine bis heute andauernde Debatte um die Möglichkeit einer Alleintäterschaft van der Lubbes. Trotz zahlreicher feuerwehrtechnischer Gutachten und Neubewertungen der Polizei- und Gerichtsakten konnte bisher keine endgültige Aussage dazu gemacht werden. Es ist anzunehmen, dass dies auch in Zukunft nicht gelingen wird.

Am 6. Dezember 2007 verfügte die Bundesanwaltschaft, „dass das Urteil gegen den im ‚Reichstagsbrandprozess’ verurteilten Marinus van der Lubbe aufgehoben ist“. Grundlage für die Feststellung war das NS-Unrechtsurteileaufhebungsgesetz aus dem Jahre 1998, nach welchem Urteile aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 von Amts wegen aufzuheben sind, wenn sie auf spezifischem nationalsozialistischen Unrecht beruhen.

Aufmerksam geworden durch verschiedene Presseberichte zu den neu aufgeflammten Debatten zur Alleintäterschaft, las solitaire factory mit Interesse die großartige Marinus-van-der-Lubbe-Biografie von Martin Schouten. Der Autor macht aus seiner Sympathie für den aktionistischen jungen Arbeiter und Anarchisten kein Hehl. Für ihn spricht nichts dafür, dass Marinus mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht haben könnte. Liest man die bewegte Lebensgeschichte des Protagonisten, ist diese Ansicht absolut nachvollziehbar. Obwohl es keine sicheren Beweise für die Alleintäterschaft van der Lubbes gibt, beschloss solitaire factory, mit dem Projekt „Marinus“ zu dessen Rehabilitation in der öffentlichen Meinung beizutragen oder zumindest ein Interesse für das Leben des – wie zumindest die meisten Holländer glauben – ersten antifaschistischen Widerstandskämpfers zu wecken.

Dafür entwickelte solitaire factory eine besondere Methode. Eine Methode nämlich, die nicht von politischen Dogmen geprägt war, sondern ganz im Geiste des angeblich postideologischen 21. Jahrhunderts, das gerade den Sieg des Kapitalismus über die „sozialistischen“ Experimente des 20. Jahhunderts zelebrierte, funktionieren sollte.
Bekanntermaßen wurde Marinus van der Lubbe bzw. seine Tat sowohl von den Nazis als auch von den Kommunisten und anderen Nazi-Gegnern immer wieder vereinnahmt und instrumentalisiert. Dieser Vereinnahmungsstrategie gab solitaire factory im Projekt „Marinus“ eine neue, zeitgemäße Form: „MARINUS“ sollte als positiv besetzte Marke für unterschiedliche Produkte herhalten.

In diesem Sinne wurden am Anfang „Marinus“-Feuerzeuge, „Marinus“-T-Shirts, aber auch „Marinus-Bleistifte“ hergestellt. Auch eine Serie von 40-prozentigem „Reichstags-Brand“, ein Obstbrand mit einer feurigen Chili-Schote, wurde produziert. Wo immer die Künstler der solitaire factory auftauchten, klebten sie Aufkleber mit dem „Marinus“-Logo, um die Marke bekannt zu machen. Natürlich hatte all dies eher symbolischen Wert. Die Ambitionen der Künstlerguppe gingen perspektivisch weit über diese Aktivitäten hinaus. Eine Idee war beispielsweise, Vivienne Westwood vor dem Hintergrund ihrer Punk-Biografie zu überreden, eine „Marinus“-Kollektion zu entwerfen.

Mit der Auflösung von solitaire factory im Jahre 2004 war jedoch auch das sehr ambitioniert begonnene „Marinus“-Projekt vorzeitig beendet.
Immerhin hatte die Künstlergruppe Gelegenheit, das Projekt 2002 im Leipziger Kunstverein und 2003 im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen zu präsentieren. Eine weitere Ausstellung gab es 2008 in der Galerie Born+Busse in Leipzig, zu der eigens noch neue Arbeiten produziert wurden.

Die Produktion der „Marinus“-Produkte war bei den Ausstellungen immer nur ein Mittel zum Zweck. Inhaltlich ging es tatsächlich einerseits um die Person Marinus van der Lubbe und die anhaltende Alleintäter-Debatte. Thematisiert wurden aber ebenso, was noch viel wichtiger war, wirkliche philosophische Fragen. Es ging um Lebensentwürfe, um Auf- und Ausbrechen, um Unterwegs- und Angekommensein und natürlich – wie könnte es anders sein – ums Scheitern.